Wir probieren Geschichten an wie Kleider

„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält", so steht es in dem großes Vergnügen bereitenden Buch „Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch.

Das Buch erzählt uns von der Macht der Identität. Wie gutes Standup Comedy gesellschatlichen Auffälligkeiten mit Intelligenz und Humor begegnet, so zeigt uns das Buch „Mein Name sei Gantenbein" spielerisch den Spiegel vor, wie wir kontinuierlich konstruieren, wer wir sind, um nach außen hin ein Bild von uns zu präsentieren, mit dem wir gut leben können. Dabei ist unser Wunsch nach einer konsistenten Identität stärker, als fast alles, was uns umgibt: Stärker, als unser Wunsch nach Reichtum, stärker als jede Partnerschaft.

Eine der vielen Exkurse des Buches erzählt von einem Mann, der sich einbildet, ein Pechvogel zu sein. Als er eines Tages im Lotto gewinnt, steht er vor der Wahl …

„Es war ein Schlag für ihn", sage ich, „ein richtiger Schlag, als dieser Mann das Große Los gewann. Es stand in der Zeitung, und so konnte er’s nicht leugnen. Als ich ihn auf der Straße traf, war er bleich, fassungslos, er zweifelte nicht an seiner Erfindung, ein Pechvogel zu sein, sondern an der Lotterie, ja, an der Welt überhaupt. Es war nicht zum Lachen, man mußte ihn geradezu trösten. Vergeblich. Er konnte es nicht fassen, daß er kein Pechvogel sei, wollte es nicht fassen und war so verwirrt, daß er, als er von der Bank kam, tatsächlich seine Brieftasche verlor. Und ich glaube, es war ihm lieber so", sage ich, „andernfalls hätte er sich ja ein anderes Ich erfinden müssen, der Gute, er könnte sich nicht mehr als Pechvogel sehen. Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche, versteht sich, er müßte die ganze Geschichte seines Lebens aufgeben, alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu seinem Ich passen –" Ich trinke. „Kurz darauf betrog ihn auch noch seine Frau", sage ich, „der Mann tat mir leid, er war wirklich ein Pechvogel."

Heinz Ketchup hat vor wenigen Wochen ein Werbevideo veröffentlicht, das mit der Identität der Menschen in Chicago spielt. Ein echter Chicagoer isst kein Ketchup auf seinem Hot Dog – bis zu dem Moment, da Heinz den Spieß umdreht und Ketchup einfach zu Chicago Dog Sauce umlabelt. Das Video mag etwas konstruiert sein, zeigt aber sehr gut, wie wichtig für uns unser Selbstbild ist. Vor allem auch, wie wir all jenen folgen, die uns dabei helfen, dieses Bild zu hegen und zu pflegen.

Dabei sind wir durchaus feinfühlig und richten uns nach Trends und Tendenzen. Was das Chicago Dog Sauce Label für den echten Chicagoer, ist die vegane Auszeichnung auf Speiseangeboten, Lebensmitteln und sonstigen Produkten für den politisch korrekten, gesunden Lebensstil pflegenden, zeitgemäßen, urbanen Menschen. Was das das Bio-Label nicht geschafft hat, nämlich gesellschaftliche Glaubwürdigkeit zu erlangen, gelingt dem Vegan-Label, weil es uns so viele Wohlfühl-Lebensstil-Bausteine mitgibt.

Marken geben uns Orientierung und – wenn man so mag – Hilfestellung, unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Identität zu befriedigen. Social Media erleichtert uns, dieses Wunschbild von uns selbst anderen zu vermitteln. 

In der Kommunikation für systemgastronomische Konzepte müssen wir dieses Prinzip Identitätskonstruktion verstehen. Wir sollten uns dabei jedoch nicht von der Leichtigkeit des Spiels verführen lassen. Ein aufgeklebtes Label geht irgendwann ab. Nur ein Spiel mit Stereotypen – abgesehen davon, dass wir Verantwortung tragen – ist kurzlebig; darauf basierende Konzepte werden nicht langfristig erfolgreich sein. Ich kann heute schon keinen Unterschied zwischen einem Vegan Revolution und einem weißen T-Shirt mit rotem Levi’s Logo ausmachen. Kaum bekommen Begriffe Beachtung, weil sie für Ideen stehen, haben wir sie schon wieder ausgehöhlt und ihrem Sinn entleert. Gäste suchen in unseren Restaurantmarken eine authentische, glaubwürdige, solide und nachhaltige Identität. An solchen Marken müssen wir bauen. Wenn wir den authentischen Kern finden und diesen leben, bleiben die Gäste für immer. Denn wir haben ja gelesen: Schon wieder „Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche … “

Balázs Tarsoly,
Branding Cuisine